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["Der Markuslöwe: Pax Tibi Marce Evangelista Meus"] |
So, wie ich
es sehe, tut einem das Touristendasein von Zeit zu Zeit ganz gut. Allerdings
nicht gerade im Sinne frischer, anregender Eindrücke, sondern eher als
gnadenlose Bestandsaufnahme der eigenen Existenz [...] Sie [die Reisen]
offenbaren nämlich eine Lebenslüge, genauer gesagt, sie widersprechen meiner
Vorstellung von mir als echtem Individuum.
[David
Foster Wallace »Consider the lobster« (2004)]
Warum die Hast, immer gelaufen, gerannt, etwas zu verpassen, Leben zu verpassen, daß ich immer an einer anderen Stelle sich abspielen sah oder meinte, es spiele sich immer irgendwoanders ab als gerade da, wo ich war.
Warum die Hast, immer gelaufen, gerannt, etwas zu verpassen, Leben zu verpassen, daß ich immer an einer anderen Stelle sich abspielen sah oder meinte, es spiele sich immer irgendwoanders ab als gerade da, wo ich war.
[Rolf Dieter
Brinkmann »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand«
(1972)]
Goethe
zeichnete
alles wir
knipsen
[Erich
Arendt »Erice« (1972)]
10.02.2014 Bergamo, Porta San Giacomo
»PAX TIBI MARCE EVANGELISTA MEUS«. Friede sei mit dir, Markus, mein
Evangelist. Mit diesen Worten soll ein Engel Markus in der Lagune von Venedig
begrüßt haben. Es muss eine ehrfurchteinflößende Erscheinung gewesen sein, der
übergroße Engel so in der Höhe über dem Wasser mit gleißender Aura und die
Finger zum Segen gesenkt. Zugleich liegt auch etwas Vertrautes in seiner
Stimme, die Markus bei seinem Vornamen und mit Fürwort anspricht, das
Zugehörigkeit und Nähe ausdrückt. Diese Worte zieren auch das marmorne
Tor zur Oberstadt Bergamos, das ich auf meinem Weg zur Universität
durchschreite. Unter einer Bahnbrücke mache ich einen Bogen um einen fußkranken Bettler,
der an die Fensterscheiben der wartenden Autos klopft und mir etwas unheimlich
ist. Auf der Via San Bernadino komme ich an einer Bibliothek und einer
Gelaterie entlang, wo ich mich mit einem kleinen Kaffee für den Aufstieg in die
città alta stärke, der Altstadt Bergamos. Die Via Allesandro läuft an der Piazza Pontida vorbei. An diesem Morgen bieten Bäuerinnen aus den umliegenden
Dörfern ihre Waren feil. Gurken, Paprikas, Salatköpfe, Pepperoni und Tomaten an
Ranken stehen im nassen Plätschern des Brunnens. Hinter der Basilika weichen die Läden der città bassa allmählich
den Wohnhäusern am Hang. Die Wege werden nun enger und sie sind mit unbehauenen
Steinen und Platten an den Rändern ausgelegt, die die Bergamasken im
Vorübergehen höflichkeitshalber den Alten überlassen. Von den Steinbögen der
Mauern hört man den Regen des Vortages tropfen und in einem Rinnsal den Weg
hinabfließen. In der Ferne sehe ich die Silhouette der Alpen sich wie die
Schultern von Riesen erheben. Aus dem Dunst ragt mir eine schwere
Brücke entgegen, über die ich schwankend bis zum Porta San Giacomo vortrete,
dem Eingang zu der venezianischen Festungsstadt, wo man den Markuslöwen
postiert hat. »Friede sei mit dir«, brüllt dieses majestätische Ungeheuer mit
gelockter Mähne und Adlerschwingen mir entgegen. Fast möchte ich etwas geduckt
an ihm vorbeihuschen. Unter der Pranke hält es ein Buch, aber ohne es zu
zerdrücken sondern behutsam, wie ein Löwe auf sein Junges achtgibt. Der
Markuslöwe ist nicht nur Bewahrer der Heiligen Schrift im engeren Sinne,
sondern er ist auch grimmiger Verteidiger des geschriebenen Wortes, der
Literatur. Ein pussierliches Tierchen, denke ich mir auf dem Weg zur
Universität in der Via Salvecchio, wo gleich das Seminar stattfindet. Sein
Begrüßungsschrei von oberhalb des Tors ist auch der Eintritt in eine neue Phase
meines Studiums, des Lesens und Reisens im Ausland.